Wurde der Betroffene von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden und bleibt auch ein insoweit bisher legitimierter Verteidiger der Haupthandlung fern, darf trotzdem der Einspruch nicht nach § 74 II OWiG verworfen werden. Es ist eine Verhandlung durchzuführen.
OLG Köln, 1 RBs 260/21
Doch wann ist ein Entbindungsantrag zu stellen? Und muss das Gericht einen solchen Antrag stattgeben?
Nach § 73 II OWiG hat das Gericht dem Betroffenen auch seinen Antrag zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, er werde auch in der Hauptverhandlung keine Einlassung abgeben und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte nicht erforderlich ist. Hierzu gehört dann, dass die Fahrereigenschaft eingeräumt wird. Dann besteht kein Ermessen des Gerichts, es ist zur Entbindung verpflichtet.
Insoweit ist es auch nicht missbräuchlich, wenn der Antrag des Verteidigers auf Entbindung des Betroffenen erst sehr kurzfristig bei Gericht eingeht. Hier ging das entsprechende Telefax erst ca. anderthalb Stunden vor der Hauptverhandlung bei Gericht ein, und zwar genau bei der Geschäftsstelle des entscheidenden Richters. Der Entbindungsantrag war einer von zwei Anträgen in diesem Telefax, er wurde also nicht in einem langen Schriftsatz versteckt (sogenannte Gehörsrügefalle). Hier wurde lediglich noch der Antrag gestellt, durch Beschluss zu entscheiden. Der Richter hätte zumindest auch bei seiner Geschäftsstelle nachfragen müssen, ob ein solcher Antrag eingegangen ist, dass der Betroffene nicht zur Verhandlung erschienen.
KG Berlin, 3 Ws 312/21
Bemerkenswert, dass das OLG auch Zweifel hat, ob der Antrag dem Richter nicht schon vor dem Termin vorgelegen hat.
Anders sieht es (mal wieder) das OLG Frankfurt, das einen Entbindungsantrag gut viereinhalb Stunden vor der Hauptverhandlung nicht als rechtzeitig ansieht. Es nimmt zwar auch eine gebundene Entscheidung an (kein Ermessen des Gerichts), führte dann aber aus, dass dieser unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt des Gerichts vom Richter zur Kenntnis genommen hätte werden können. Bisher ging es nicht nur um die Zeitspanne zwischen Eingang des Antrags und der Hauptverhandlung, sondern auch um die Art der Übermittlung. Bei elektronisch eingereichten Dokumenten ist zu überprüfen, ob dieses an die Geschäftsstelle oder den allgemeinen Anschluss des Gerichts gesandt wurde. In letzterem Fall bedarf es eines deutlichen Hinweises auf die Eilbedürftigkeit. Hier bekommen die Verteidiger verbal Prügel. Es sei zunehmend festzustellen, dass derartige Anträge häufig als nicht von einem sachorientierten, den Grundsätzen einer dem Verfahren dienendenden Handlung eines Organs der Rechtspflege gestellt werden. Es nimmt eine missbräuchliche Inanspruchnahme von verfahrensrechtlichen Anträgen häufiger an, hierbei wird den Verteidigern unterstellt, möglichst viele Gebühren zu generieren (dies wäre der Fall bei einer erfolgreichen Rechtsbeschwerde mit anschließender Zurückverweisung, es würden weitere Anwaltsgebühren anfallen). Bezug genommen wird dann auf die Schäden, die Rechtsschutzversicherungen und ihren Aktionären entstehen, weiterhin wird darauf hingewiesen, dass Gerichte wegen derartiger Vorgehensweisen überlastet seien. Das Gericht erwägt daher, zukünftig Entbindungsanträge nur noch als wirksam anzusehen, wenn diese mindestens 3 Werktage vor der Abwandlung gestellt werden.
Dann erhielt der Verteidiger doch noch ein Lob. Er hat eine zulässige Verfahrensrüge erhoben, der Senat weist darauf hin, dies sei in einer derartigen Konstellation das 1. Mal seit ca. 10 Jahren.
Die Angelegenheit wurde zwar aufgehoben, aber nicht an das Amtsgericht zurückverwiesen. Es erging eine Entscheidung durch das OLG nach § 79 VI OWiG (Verurteilung), einen rechtlichen Nachteil sah das OLG nicht, denn wenn der Betroffene entbunden worden wäre, wäre auch eine Entscheidung auf Basis der Aktenlage ergangen.
OLG Frankfurt, 2 Ss OWi 440/21
Meines Erachtens eine falsche Entscheidung, eine derartige Frist für die Stellung von Anträgen auf Entbindung ist im Gesetz nicht vorgesehen. Außerdem hätte nicht zwingend eine Entscheidung nach Aktenlage ergehen müssen, es hätte ja noch immer ein mit schriftlicher Vollmacht versehener Verteidiger bei Gericht erscheinen können.